Das Porträt – gestern und heute

Das Porträt – gestern und heute

Ein Text von Dr. Katja Schumann.

Dem im Jahr 2000 verstorbenen französischen Fotografen Jeanloup Sieff wird nachgesagt, dass er zur Symbiose zwischen der Zeit und dem Moment, den die fotografische Aufnahme einfängt, gesagt haben soll: „Fotografie ist die Trauer über die vergängliche Zeit und das Bedürfnis, einige Augenblicke festzuhalten […] Fotografie ist unlösbar mit der Zeit verknüpft, die sie festhält, mit der Zeit, die zwischen den Fingern, zwischen den Augenblicken zerrinnt, mit der Zeit der Dinge und Menschen, des Lichts und der Gefühle. Die Zeit wird nie mehr das sein, was sie war.“ 

Gestern.

Blickt man zurück in die Geschichte der Porträtfotografie, werden oftmals bereits die zwischen 1786 und 1830 mittels des Physionotrace hergestellten Profilporträts als direkter Vorläufer angesehen. Der von dem Franzosen Gilles-Louis Chrétien (1754 – 1811) in Paris 1786 entwickelte Silhouettenstuhl ermöglichte durch die Verwendung eines Pantografen, auch Storchenschnabel genannt, eine detailgetreue Übertragung der Profilkontur auf ein Blatt Papier. Der Ausführende ergänzte anschließend die Binnenzeichnung und übertrug wiederum mit einem Pantografen die Zeichnung verkleinernd auf eine Metallplatte, von welcher gedruckt werden konnte. Die Physionotraceporträts hatten die Qualität eines Kupferstichs und suggerierten gleichzeitig eine naturalistische und damit authentische Abbildung. Bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts blieb die Abbildung von Personen Lebensinhalt zahlreicher Bildnismaler und Zeichner, die für nahezu alle Schichten der Bevölkerung tätig waren. Das großformatige Gemäldeporträt blieb dabei zwar den gehobenen Kreisen vorbehalten, aber kostengünstigere Porträtformen wie die Miniaturmalerei und die Silhouettenporträts konnten sich auch die Landbevölkerung oder die sogenannten unteren Schichten leisten. Mit der Verbreitung der Fotografie nach 1839 entwickelte sich ein neuer Berufszweig, der oftmals von den auftragslos gewordenen, über das Land ziehenden Malern und Zeichnern ausgefüllt wurde. Der Direktor der Hamburger Kunsthalle Alfred Lichtwark (1852 – 1914) resümierte 1907 auf diese Zeit rückblickend: „Bis 1840 hatte es in den meisten Städten noch bedeutende und fast überall noch ganz tüchtige, handwerkliche Bildnismaler und Bildniszeichner gegeben. In den fünfziger Jahren zogen sie in Norddeutschland im Sommer noch aufs Land und malten oder zeichneten Bildnisse für die Bauern. Von etwa 1870 – 80 an starben sie aus. Um 1890 pflegten selbst die wohlhabendsten Leute es als einen sündhaften Luxus oder gar Anmaßung anzusehen, sich malen zu lassen. […] Die Mittel, die dagegen für die Bildnisphotographie aufgewandt wurden, übersteigen alle Schätzung. In den großen Städten gab es Hunderte von Bildnisphotographen, im kleinsten Nest, wo kein Maler das Leben hatte, pflegte ein wohlhabender Photograph zu sitzen.“ 

Diese Entwicklung war möglich geworden, da mit der Einführung des Nassen Kollodiumverfahrens in der Mitte des 19. Jahrhunderts, dem kurz darauf das Carte-de-Visite-Format folgte, die Preise für die Fotografie rapide fielen. Mit dem Aufkommen der kunstfotografischen Bewegung um 1900, in der sich vor allem Amateure gegen die standardisierte und normierte Atelierfotografie richteten, unterschieden einige Kunstfotografen zwischen dem ‚Bild’ und dem ‚Bildnis’. Während das ‚Bildnis’ einer künstlerischen Aufnahme entsprach, war das ‚Bild’ lediglich die mechanische Abbildung. Noch einmal war es Alfred Lichtwark, der 1893 bei der Eröffnung der ersten Hamburger kunstfotografischen Ausstellung  die Ambivalenz der Porträtfotografie zwischen einer ästhetischen und idealisierten Abbildung der aufzunehmenden Person und einer möglichst identischen Wiedergabe thematisierte: „Das deutsche Publikum hat im allgemeinen eine Abscheu vor der Wirklichkeit. Selten will es scheinen, wie es ist, jeder hat das Bedürfnis, sich im Bildnis zu einem vagen Ideal gesteigert zu sehen. Das Publikum schätzt im Bildnis nur die sogenannte schöne Ähnlichkeit, d.h. die Unterdrückung des Charakteristischen. Bei solchen Stimmungen und Wünschen des Publikums müssen die besten Bestrebungen der Berufsphotographen scheitern.“ 1927 schätzte einer dieser Berufsfotografen – Nicola Perscheid (1864 – 1930) – ein: „Die Bildnis[…]photographie ist schon längst auf einem toten Punkt angekommen, weil die Photographie nicht weiter entwicklungsfähig ist. Die Reklameaufnahmen, die man z.B. vor den Kinos sieht, haben den Geschmack des Publikums vollständig verdorben und beweisen förmlich, dass wir uns im Rückschritt befinden. […] Für ein gutes Porträt eines Menschen, geistvoll aufgefaßt, ist heute kaum noch Interesse vorhanden.“

Heute.

Fast 90 Jahre nach dieser pessimistischen Einschätzung und nach dem Medienwechsel von der analogen Fotografie zu den digitalen Bildwelten ist die Fotografie lebendiger als je zuvor und in allen Gesellschaftsschichten vertreten. Das moderne Medienzeitalter führt mit der Umsetzung der Bildinformationen in digitale Daten zu einer ungefilterten Bilderflut. Selbst der Umgang mit Technik hat sich verändert, denn der Augenblick, den Jeanloup Sieff erwähnt, kann längst nicht mehr mit dem Blick des Fotografen durch den Sucher assoziiert werden. 

Das heutige Porträt wirft einige spannende Fragen auf. Muss beispielsweise der Blick des Fotografen von dem Porträtierten erwidert werden? Charakterisiert ein gegenseitiger Augenblick ein Porträt oder genügen auch die Spuren, die ein Mensch hinterlassen hat? Es bleibt spannend, wohin uns die zeitgenössische Porträtfotografie noch führen wird.

Die Textauszüge sind einem Vortrag von Dr. Katja Schumann zur Eröffnung der ersten Jahresausstellung des PORTRAITS – HELLERAU PHOTOGRAPHY AWARD entnommen.

Martin Morgenstern

Martin Morgenstern (*1979) studierte Musikwissenschaften in Weimar und London, arbeitete als Korrespondent und Fotograf u.a. für ddp und dpa und gründete 2007 die Kunstagentur Dresden. Im Verlag der Agentur erschienen Fotobücher und Kataloge u.a. von Stefan Krauth, Frank Höhler, Luc Saalfeld, Jacques Schumacher und Stefanie Minzenmay. 2019 wurde er als ordentliches Mitglied in die Deutsche Gesellschaft für Photographie berufen und war von 2020 bis 2022 Vorstandsvorsitzender des Forums für zeitgenössische Fotografie Dresden. 2021 nahm die Deutsche Fotothek einige seiner Werke in das »Archiv der Fotografen« auf.