Ansehen, Einfühlen, Nachdenken
Die Kunsthistorikerin Anna Eisenmenger stellt im Vorwort zum PORTRAITS Jahreskatalog 2019 die Frage, ob die zeitgenössische Fotografie als Kunstform überhaupt noch relevant ist.
Die inflationäre Produktion, Verbreitung und Verfügbarkeit von Bildern, die überschwengliche Rede von der Demokratisierung des Mediums führt doch scheinbar zu ihrem Bedeutungsverlust. Sind also Wettbewerbe und das Bestreben, zeitgenössische Fotografie in Kunsträumen zu präsentieren überhaupt noch zeitgemäß?
Zeitgenössische Fotografen lösen sich zunehmend von der engen Fixierung, Fotografie auf den von Cartier Bresson geprägten ’entscheidenden Augenblick’ zu reduzieren. Der Anspruch, etwas objektiv abzubilden, ist durch künstlerische Fotografie nicht mehr einlösbar. Vielmehr versucht sie, Momente zu interpretieren und die Geschichten dahinter weiterzuerzählen. Und: Fotografie ist heute, jenseits der Wiedergabe von Oberflächen, ein Prozess, den der gesellschaftliche Diskurs bestimmt. Sobald Fotografie Haltung bezieht, wird sie jenseits ästhetischer Kampfbegriffe und kunstphilosophischer Binsen hochaktuell und damit relevant.
Und was kann Fotografie heute noch enthüllen? Wie ein Bild gestaltet und wie es wahrgenommen wird, ändert sich fortlaufend. Damit wandelt sich auch das Genre des Porträts – die Interpretation der Entäußerung von Persönlichkeit und Identität. Die oft gestellte Frage nach der Identität – des Fotografen und des Porträtierten – könnte im günstigsten Fall hinter die Frage nach der Integrität zurücktreten. Aber kann man im Zusammenhang mit Fotografie den Anspruch auf Integrität erheben gegenüber einem Medium, das wie keine andere Kunstform anfällig ist für Manipulation, Fehlinterpretation und Spekulation?
Die jeweilige künstlerische Position bettet den Fotografen, den Porträtierten und idealerweise den Rezipienten in ihren kulturellen Kontext ein. Kunsträume wie HELLERAU – Europäisches Zentrum der Künste und das als Kunstraum neuerstandene Alte Pumpenhaus an der Marienbrücke übernehmen dabei die Verantwortung, alle Beteiligten in einem gleichermaßen offenen wie auch geschützten Umfeld zusammenzubringen.
Wenn sich Fotografen vom ’entscheidenden Augenblick’ lösen, vertrauen sie auf einen aufgeklärten Betrachter. Er wird aufgefordert, Fotografie zu dekodieren und unter die Oberfläche zu blicken. Künstlerische Fotografie muss also nicht die allerletzte Bedeutungsschicht freilegen. Wie bei jedem guten Narrativ bleibt etwas verhüllt – die Weitererzählung des vom Fotografen interpretierten Moments durch den Betrachter führt im besten Fall zu einer Wahrhaftigkeit, die über die reine Wahrheit hinausweist.
Wettbewerbe wie der PORTRAITS – Hellerau Photography Award sind der ideale Weg, eine möglichst große Vielfalt dieser Erzählformen zu versammeln und zu vermitteln. Jeder Teilnehmer definiert durch seine künstlerische Haltung eine subjektive Bildsprache. Die unterschiedlichen Perspektiven und Methoden im Umgang mit Fotografie, die vielfältigen Spielformen an Techniken und Konzepten bis hin zur letztendlichen Präsentation der Werke zeigen das ganze Spektrum der aktuellen fotografischen Praxis.
Der international ausgerichtete Wettbewerb PORTRAITS – Hellerau Photography Award findet in diesem Jahr zum vierten Mal statt. Dass sich dieser Preis für zeitgenössische Porträtfotografie weiter in der Kunstszene etabliert, bestätigt erneut die Fülle an eingereichten Arbeiten. Eine Jury aus Galeristen, Fotografen und Kuratoren sichtete in diesem Jahrgang hunderte Beiträge zum Thema »Uncovered«. Die wenigsten Einsendungen waren vorhersehbar oder bedienten den augenfälligsten Wortsinn. Die finale Auswahl, ob von Künstlern oder Amateuren, zeigt, dass es vor allem wichtig ist, Position zu beziehen, etwas zu sagen zu haben. Am Ende bleibt nur das ganz persönliche Ansehen, Einfühlen, Nachdenken. Es geht darum, das Werk für sich selbst zu uncovern.
(Titelfoto: Mary Gelman, PORTRAITS Residenzpreisträgerin 2019)