Menschenbilder
Die Kunst des Fotoportraits entwickelte sich nach der Erfindung der revolutionären neuen Abbildungstechnik rasch zur mit Abstand bedeutendsten Disziplin der Fotografie. Sicherlich spielte dabei zuerst der Bedarf nach einem möglichst realen Bildnis eines Menschen die treibende Rolle. Ob von sich selbst, von den Geliebten oder von verehrten Helden: der Mensch brauchte und gebrauchte das Bildnis von Anfang an als magisches Amulett. Aber auch die ersten künstlerisch inszenierten Portraits ließen damals nicht lange auf sich warten. Schon 1840 setzte sich Hippolyte Bayard, einer der Urväter der Fotografie, auf seiner berühmten Aufnahme Selbstporträt als Ertrunkener entsprechend des Bildtitels in Szene. Auf diesem Bild strebte der Fotograf keineswegs eine reale Abbildung seiner selbst an. Er nutzte das neue Medium, um durch eine geschickte Inszenierung eine konkrete Botschaft an den Betrachter zu richten.
Togetherness trotz allem
Das Zusammensein mit anderen Menschen bekam während der COVID- Pandemie eine besondere Bedeutung. Krisenzeiten können uns einander näher bringen, das ist eine bekannte Wahrheit. Was aber, wenn eine Pandemie und vor allem die Maßnahmen dagegen das enge Zusammensein, normalerweise ein erprobtes Abwehrmittel gegen äußere Bedrohungen, verhindern? Inwiefern werden dadurch die scheinbar bekannten Sphären der Öffentlichkeit in Frage gestellt und gegen die Privatheit ausgespielt? Und wie verhält sich die Kunst in Hinsicht auf die völlig neuen Vorgaben, die das Introvertierte fordern und das Extravertierte im „analogen“ Umgang mit den Mitmenschen unter Verdacht stellen? Ist eine künstlerische, visuelle Erzählung, die seit einigen Jahrzehnten durch das technisch reproduzierbare Bild determiniert ist, überhaupt geeignet, sich mit diesen aktuellen Herausforderungen auseinanderzusetzen und uns dabei universell geartete Botschaften zu liefern?
Angesichts der ganz neuen Qualitäten der globalen Entwicklung während einer Pandemie sind der künstlerischen Narration Grenzen gesetzt. Und dennoch! Die Kunst blieb nicht stumm. Sie reagierte, obwohl ihre Horizonte gewöhnlich erst aus einem Zeitabstand heraus erweitert werden können. Auch wenn den instant-Abbildungen des Hier-und-Jetzt eine Dosis Naivität anhaftet, sind diese Bilder essentiell, weil sie den Versuch einer Weltauslegung hier und jetzt ermöglichen. Sie werden auch in der Zukunft als Zeitzeugen eine wesentliche Rolle bei Analysen der Vergangenheit spielen. Denn die Art, wie wir die Vergangenheit interpretieren, hängt nicht nur mit der Wahrnehmung der Gegenwart zusammen. Die Auslegung des Vergangenen wird auch stark von unserer Vorstellung von der Zukunft beeinflusst (Riccardo Bavaj). Und es wird eine Zukunft nach Corona geben! Das ist der Grund, warum die Kunst auch in Bezug auf die anderen, scheinbar weniger wichtigen und dennoch präsenten Geschehnisse und auf eine Fülle von universellen Themen und sozialen Aspekten des Lebens in einem gewohnt breiten Spektrum Stellung bezieht. Das Soziale, das Politische, das Sonst-Noch-Aktuelle, das Erinnerungskulturelle und letztendlich das Menschsein bilden auch in diesem Jahr den mannigfachen Hintergrund der Hauptströmung mit den Beiträgen, die sich mit der Pandemie und ihrer Folgen auseinandersetzen. Die Kunst bleibt ein demokratisches Mittel der Erkenntnis. Das Menschsein ist dabei ein Schlüsselwort, das nicht nur mit Togetherness, dem Thema des Portraits –Hellerau Photography Award 2021, sondern auch mit der faszinierenden fotografischen Disziplin, dem Porträt, aufs Engste verbunden ist.
Der Text ist dem neuen Jahreskatalog der PORTRAITS – Hellerau Photography Awards 2021 entnommen, der am 17. April 2021 im Verlag der Kunstagentur Dresden erscheint. Titelfoto: PORTRAITS-Finalistin Ina Schoenenburg, aus: »Związki«